Friedrich Dorschner: Die letzten Tage in der Heimat
Ein Erlebnisbericht

 

Vorbemerkung:

Friedrich Dorschner erlebte das Ende des Krieges und die Vertreibung durch die Tschechen in Wildstein. Seine Erlebnisse schrieb er in zwei DIN–A5–Schulschreibheften auf 32 Seiten in Sütterlinschrift auf.

Heft I ist vollständig vollgeschrieben, bei Heft II sind die letzten vier Seiten bis auf zwei Zeilen leer.

Der Umschlag der Hefte ist blau, ausgebleicht, mit Vergilbungsflecken; bei Heft II fehlt bei der Rückseite die linke obere Ecke. Die Vorderseite besitzt ein blaues, aufgedrucktes Rechteck zur Beschriftung, darin steht: (1. Zeile) Friedrich Dorschner, darunter: Die letzten Tage in der Heimat; Zeile 3: I .(oder II.).

Die Seiten haben eine blasse, blaue Lineatur und einen kräftigen, blauen Randstrich; der Rand ist ca. ein Zentimeter breit. Das Papier ist ebenfalls altergemäß vergilbt.

Friedrich Dorschner: Die letzten Tage in der Heimat I.

Der Krieg pocht an die Pforten des Egerlandes. Wer hätte einmal geglaubt, daß sich die Kriegsfurie soweit vorwagen würde? Schon wurden Karlsbad, Falkenau und Eger durch Fliegerangriffe schwer heimgesucht. Die Angriffe erfolgten meist auf Bahnanlagen und Bahnhöfe. In Eger ist der Bahnhof und das ganze Bahnhofviertel längs der Bahnstrecke weitherum ein Tümmerhaufen. Die Amerikaner in breiter Front über Bayern kommend stehen an der Grenze und beschießen Eger und das Egerland. Wenn man am Tischerbühl steht, hört man die Abschüsse des Feindes aus der Richtung Franzensbad - Haslau und kurz darauf sieht man die Einschläge der Geschoße in der Gegend hinter dem Egerer Friedhof – eine Rauch– und Staubfontäne schlägt zum Himmel. Die Stadt Eger brennt an mehreren Stellen, besonders rechts vom Krankenhaus ist schwarzer, starker Qualm. Es sollen dort Militärmagazine brennen. Im ganzen Egerland ist der Fliegeralarm permanent. Fast den ganzen Tag ist der Luftschutzraum im Felsenkeller des Mühlberges überfüllt, Vorstädter müssen in die Keller des Stinglhauses am Marktplatz, zwar ein sehr zweifelhafter Schutzraum, aber die Menschen sind schon fast lethargisch. Die Betriebe feiern, weil infolge Zerstörung der Bahnanlagen eine Verkehrsverbindung nicht mehr besteht und auch noch immer Tiefangriffe von Flugzeugen mit Bordwaffen auf einzelne Fahrzeuge und Menschen unternommen werden. Die deutsche Wehrmacht hat am Mühlberg, in der Schlattermühle, am Friedhofweg und hinter der Siedlung "Neue Welt" Granatwerfer eingebaut, die oft in Tätigkeit gesetzt werden und die Angst wegen Beschießung des Ortes durch die Amerikaner noch erhöhen ....

Die Angst war auch gerechtfertigt. Am 24. April während eines Fliegeralarms fielen die ersten Granaten aus der Richtung Haslau kommend in den Ort. Es dürften sechs bis sieben gewesen sein. Eine schlug ca. 20 Meter neben uns in die Waschküche des Stuchlikhauses und fegte sie weg. Von unserem Gewölbefenster aus sahen wir nur Staub und Rauch; hörten bald darauf die klagende und um Hilfe rufende Stimme einer Frau, die bei Stuchlik wohnende Frau Lutz war es, deren Tochter, die eben in den Luftschutzraum gehen wollte, mit zerschmettertem Kopf am Ausgangstor neben der Waschküche auf der Straße lag. Auch durch unser Hausdach schlug ein Granatsplitter, der später am Hausboden gefunden wurde. Einschläge gab es bei Pakterkarl neben der Kirche, wo das Dach beschädigt wurde und in Brand geriet. Der Brand konnte gelöscht werden. Am Brettergarten wurde im Gasthaus Stingl der Neuanbau an das Schankzimmer getroffen und zerstört. In der Batteriefabrik wurde der hintere Teil der Mannschaftsküche zerstört und eine Granate schlug in den elektrischen Transformator beim Bauernbäcker, unterhalb der Batteriefabrik und zerstörte ihn. Am Anger schlug eine Granate in freies Gelände, wodurch ein Arbeiter namens Markgraf in den Augen verletzt wurde. Außer der 14jährigen Lutz wurde niemand getötet....

Ungefähr 14 Tage nach der Beschießung zog sich die Wehrmacht mit den Geschützen des nachts in der Richtung Mühlessen zurück und am nächsten Tag, es war ein Sonntag, (6. Mai) früh gegen 9 Uhr zogen die Amerikaner, von Großenteich herkommend, durch die Mulde unterm Tischerbühl mit Tanks und Geschützen in Wildstein ein. Wir sahen vom Fenster aus wie der Kommunist Zapf und der Bürgermeister mit einer weißen Fahne ihnen entgegen gingen. Bald darauf kam amerikanisches Militär, darunter auch einige Neger die Friedhofstraße herunter, die Häuser durchsuchend nach deutschen Soldaten. Auch zu uns kamen zwei Soldaten das Haus durchsuchend vom Keller bis zum Dachboden, benahmen sich aber sehr anständig. Später fuhren Tanks durch den Ort. Hinter uns auf der Dorschen-Wiese Seite zwischen Gaberl und Schreiter waren Geschütze aufgefahren, die ihr Feuer gegen Neudorf und die Tongruben eröffneten. Das deutsche Militär hatte sich in den Tongruben längs der Straße Neudorf - Mühlessen festgesetzt und schoß herauf. Bei uns fuhr auch ein Sanitätswagen mit toten und verwundeten Amerikanern vorbei. Auch ein Neger ist bei der Weißmühle gefallen.

Gegen Mittag, als Tanks und Geschütze von Wildstein abgefahren waren ging ich auf den Tischerbühl. In Dürr stand eine Scheune in Flammen; in Neudorf brannten viele Scheunen und man sah durch die gewölbten Scheunentore in das Flammenmeer. Die Geschütze und Tanks hatten stellenweise bis einhalb Meter tiefe Furchen in die Äcker und Wiesen gefahren.

Im Orte versahen neben den Amerikanern die Antifaschisten den Sicherheitsdienst, letztere kenntlich durch weiße Armbinden. Radio und Waffen mußten abgeliefert werden. Die Ausgangszeit für die Bevölkerung wird bis abends 9 h eingeschränkt. Abends ab 9 h fahren Ami Auto durch die Gassen -, säumige Passanten werden aufgegriffen und müssen die Nacht in Arrest verbringen, früh werden sie wieder frei gelassen. Es verlautet, daß die Ami das Egerland bis Falkenau besetzt haben, während die Russen bis Karlsbad vorgedrungen sind. In Wildstein müssen viele Villen und Häuser für die Besatzung geräumt werden. Der Proviantmeister, der in unserem Viertel sich befindeten Gruppe, ein Soldat aus Pennsilvanien, ist ein Kinderfreund und beschenkt die Kinder. Besonders meine Enkelkinder und die Kinder der sich bei uns befindlichen ausgebombten Verwandten aus Plauen erhalten sehr viel von ihm. Alle Tage erhalten sie Mittagessen, auch Spielzeug bringt er ihnen mit. Manchmal kommt er auch in die Wohnung und freut sich englische Schulbücher vorzufinden. Die Kinder hängen sehr an ihm und rufen ihn nur "Tony". Die Amerikaner sind bei der Bevölkerung sehr beliebt.

Aus der Karlsbader Gegend kommen oft Flüchtlinge durch, die böse Geschichten aus den dort besetzten Gebieten erzählen. Sie haben kein Gepäck und sind sehr armselig gekleidet.

Im Sommer kommen die Tschechen nach W... Zunächst im Autobus mit Gendarmen, nachher andere. Die Amerikaner ignorieren die Tschechen. Es zirkulieren allerhand Gerüchte. Einmal heißt es, daß das Egerland oder Bäderdreieck zu Bayern kommt, das andremal, daß sich die Amerikaner zurückziehen und das Land den Tschechen überlassen; daß alle Deutschen aus ihrer Heimat fort müssen und nur die Antifaschisten bleiben dürfen.

Die Amerikaner ziehen sich zurück. Die Tschechen besetzen die Post und die Sparkassen, die Fabriken, die Kaufläden und Hotels. Es kommen ganze Rudeln meist schlecht gekleideter Tschechen, die sich erst die Häuser, Landwirtschaften, Grundstücke, Gewerbebetriebe und Geschäfte besichtigen; dann nach einigen Tagen wiederkommen, die Leute aus ihren Wohnungen treiben und davon Besitz ergreifen. Es wird alles beschlagnahmt, nur etwas Bett, Wäsche und Bekleidung darf mitgenommen werden, die Villen müssen fast alle von den Deutschen geräumt werden, die Deutschen müssen gelbe Armbinden (später weiße) tragen, müssen um 8 Uhr in ihren Wohnungen sein und erhalten die Judenkarte mit den zum Mindestmaß rationierten Lebensmitteln.

Die Gemeindeverwaltung mußten die Antifaschisten räumen und amtierten hauptamtlich nur Tschechen. Als Bürgermeister amtiert ein Finanzer namens Horacek, ein Deutschenhasser erster Güte, der auch die Gepflogenheit hat, mit acht bis zehn Spravce des nachts bei den Deutschen in die Wohnungen einzudringen, um zu kontrollieren, ob sich nicht Grenzgänger irgendwo aufhalten. In Wirklichkeit aber suchen sie die Häuser von oben bis unten durch und was ihnen paßt und wertvoll erscheint, geht mit. Die Kommissare sind meist noch betrunken. Horacek benimmt sich manchmal wie ein Räuber und würde am liebsten alle Deutschen totschlagen. Daß es nicht dazu kommt, haben wir nur der Gendamerie zu verdanken unter der sich viele befinden, die schon früher hier in deutschen Gebieten stationiert waren und die Bevölkerung als friedliebend kennen. Jeder Tag bringt für uns neue Drangsale, sei es durch tschechische Drucksachen, die tschechisch ausgefüllt werden sollen und die kein Mensch versteht, oder Delegierungen und Verschleppungen älterer und junger Leute in das Innere Böhmens. Auch beginnen schon die Aussiedlungen deutscher Familien ins Egerer Lager.

Die Geldumwechselungen und Umschreibungen der Bankeinlagen in tschechische Währung beginnen und schaffen uns viele Scherereien und Unannehmlichkeiten. In der Egerer Sparkasse im ehemaligen Bezirksvertretungsgebäude amtiert ein Deutscher aus Eger, der in der Seketur seiner Landsleute um nichts hinter den Tschechen zurücksteht. Statt seinen Landsleuten behilflich zu sein, bei der Ausfüllung der Spareinlagelisten, behandelt er sie grob und schickt sie fort. Viele Frauen verlassen weinend und ganz eingeschüchtert den Kassenraum. Die Menschen sind ganz verzagt und scheinen um Jahre gealtert, denn die meisten haben alles verloren und sind nur notdürftig wo untergebracht. Ein Schuhhändler hier hat einen Kommissar bekommen und dieser entdeckte ein großes Lager gut versteckter Stiefel und Schuhe in allen Größen. Sie wurden alle beschlagnahmt. Der Schuster wird von der Bevölkerung nicht bedauert. Er hatte schon lange vor der Besetzung des Egerlandes für die Bevölkerung keine Schuhe mehr. Viele ältere Leute sterben. - Fürchterliche Dinge müssen sich in Aussig, Brüx und Karlsbad abgespielt haben. Man erzählt, daß in Karlsbad die Deutschen mit bloßen Händen die Toten exhumieren mußten und viele, oft ganze Familien Selbstmord begangen haben.

Hier wurden viele verhaftet, besonders solche, die 1938 bei der Entwaffnung der Staatspolizei mitgewirkt haben. Unser Bürgermeister wurde auf Grund der Intervention der Sozialdemokraten wieder freigelassen, dann aber von den Amerikanern neuerdings verhaftet und über die Grenze gebracht; ebenso unser Nachbar L... Mein Arbeitskollege G... wurde von den Tschechen verhaftet und verschleppt. Nachdem seine Frau wochenlang nicht von ihm hörte - hat sie sich mit ihrer einzigen Tochter Helga, einem herzigen Kind, im Franzensbader Parkteich ertränkt. Diese Nachricht hat mich umso gewaltiger erschüttert, weil ich die Familie kannte und wußte, daß Grüner vollkommen schuldlos war.

Die deutschen Kinder sind nun schon wochenlang ohne jeden Unterricht, die wenigen, die zum tschechischen Unterrricht zugelassen wurden, haben nur einige Tage diesen Unterricht besucht, da sie dort geschmäht und verhöhnt und am Schulweg von den tschech. Kindern angespien und geschlagen wurden. Die Lehrer haben in den meisten Fällen dieses Treiben geduldet – wo nicht gar unterstützt.

Die enteigneten Landwirte müssen, soweit sie nicht in das Innere des Landes verschleppt wurden, am Meierhof oder im eigenen Besitz roboten, die Tongruben haben die Tschechen übernommen. Ich habe von der Verrechnungskanzlei Abschied genommen und arbeite im Neudorfer Betrieb, ziehe Schwellen ein, spalte Holz, mache Umzäunung und Gräben und wärme für die auswärtigen Arbeiter das Essen.

Meine jüngste Tochter arbeitet in der Wildsteiner Tongrube am Tonhäusl. Ich bin froh, daß ich vom Treiben im Wohnort nichts mehr sehe und fühle mich glücklich. Wir tragen noch immer weiße Armbinden mit einem P und der Betriebs...? versehen. Die Rationierungen sind trotz der Zusatzkarte für die Arbeiter unzulänglich. Es sind oft karge Speisen, die ich aufwärmen muß, die meisten Arbeiter sind vom Lande und haben selbst Kartoffeln gebaut, was ihnen jetzt sehr zustatten kommt. Die Arbeiter von auswärts werden am Heimweg oft von den Tschechen belästigt und müssen alle Ausweise bei sich haben, wo sie beschäftigt sind. Ich verdiene so ziemlich, da wenig Regentage sind und ich meist volle Schichten habe, dafür muß ich, obwohl ich im eigenen Hause wohne, Mietzins, Steuern, Feuerversicherung und andere Abgaben bezahlen. Fleisch erhalten wir nur auf die Zusatzkarte, obwohl die amerikanischen Konserven in den Geschäften geradezu aufgespeichert sind und nicht verkauft werden können.

Es gibt auch gute Menschen unter den Tschechen, die gern den Deutschen etwas verkaufen würden, da ja die meisten Geldmangel haben, aber sie müssen sich hüten vor den anderen. Einer überwacht den andren da die Tsch... sehr den Branntwein huldigen, kam es schon sehr oft zu Schlägereien unter ihnen selbst. Die Slowaken scheinen eine ganz untergeordnete Rolle zu spielen. Sie erhalten die kleinsten und ärmlichsten deutschen Besitze zugeteilt und haben einige bereits wieder den Ort verlassen.

Die deutschen Antifaschisten, von den Tschechen selbst als "sogenannte" bezeichnet, spielen für uns oft die kläglichste Rolle; einer denunziert den andren, so daß vielen die Begünstigungen entzogen und den andren Deutschen gleichgestellt wurden. Der schöne Traum so vieler Antifaschisten, von den Tschechen eine Villa mit Mobilar für ihre Dienste geschenkt zu bekommen und wofür man tatkräftig mithalf die eigenen Landsleute auszuplündern und zu erniedrigen, war bald verflogen. Die Tschechen hatten ihre Informationen über jeden Einheimischen mit ihrer Hilfe abgeschlossen und nun wurden sie auf die Seite gedrängt. Lediglich die in Konzentrationslagern Gewesenen erhielten noch die erhöhten Rationen, aber auch für diese war Vorsorge für die Aussiedlung und den Verlust ihrer Wohnstätten getroffen – denn auch sie waren verhaßte Deutsche. ...

Am 12. Juli 1946 als ich abends von der Schicht nach Hause kam, erhielten wir die Weisung, bis morgen früh 6 h uns reisefertig zu machen. Die ganze Nacht wurde gepackt. Früh schon vor 6 h kamen zwei betrunkene Tschechen und wir mußten unsere Sachen vor das Haus räumen. Zum Glück suchten sie das Haus Nr. 216; das war der Störlberg, und während sie das entlegene Forsthaus aufsuchten, hatten wir Zeit unsere Sachen gar in Ordnung zu bringen.

Wir fuhren, als die Wohnung gereinigt und die Schlüssel übergeben waren, unsere Sachen auf einen Handwagen zur Aussiedlungsstelle "Altenheim". Der Altenheimplatz bot an diesem Tag ein buntes Biwak. Überall kleine Berge von Säcken, Bündeln und Koffern; dazwischen die Familien auf den Abtransport nach Eger wartend. Vor dem Abtransport mußte jede Familie noch eine größere Summe tschech. Geld für die Gemeindekasse abgeben. Ein Abwägen und Durchsuchen unseres Gepäcks fand nicht statt, der Horacek und seine Kumpane waren nicht mehr am Ruder und mußten auch den Wahlen einsichtsvolleren Vertretern weichen.

Wir kamen am nachmittag zur Abfahrt an die Reihe und die Tschechen die uns zwischen Altenteich und Franzensbad begegneten, machten ganz verdutzte Gesichter, als wir so ganz frohgemut und heiter waren.

Es war doch jeder froh, dieser Leibeigenschaft und seelischen Zermürbung enteilen zu können.

Wir liebten wohl alle unsere Heimat, aber die wir verließen war unsere Heimat nicht mehr, war uns verleidet und zum Zerrbild geworden durch das Gehaben der neuen Herren.

Mir griff es ans Herz als wir durch Franzensbad fuhren und alles so leer und ausgestorben war, wo früher um diese Zeit alles pulsierendes Leben war; ebenso als wir durch Eger fuhren: leere, tote Fenster, hie und da Trümmer – überall Vernachlässigung - eine tote Stadt. Hier wie dort lebten tausende regsame, fleißige Menschen, deren Steuerkronen reichlich in den Staatssäckel geflossen sind und der nun, durch die Vertreibung eines arbeitsamen Volkes von einem fast an Wahn grenzendem Haß dieser Quelle beraubt wurde. Einst vom Haß ermüdet, werden sie noch das Unsinnige ihres Handelns begreifen lernen.

Wir landeten mit unserem Fahrzeug in der Obertorkaserne und nicht im alten Kloster, wie wir vermutet hatten, und wo die Behandlung besser sein sollte. Hier wurden unsere Sachen abgewogen und durchsucht, wo uns von dem Wenigen (pro Kopf 50 Kilo) noch einiges weggenommen wurde. Ich selbst half meinen Landsleuten beim Transport der Sachen in den Kontrollraum, wodurch ich mich verspätete und beim Ausgang in den Hof von einem Tschechen mit ausgesprochenem Verbrechergesicht meiner Taschenuhr und meines Bargeldes beraubt wurde. Er war, wie ich später erfuhr der Stellvertreter des Lagerkommandanten. Unsere Sachen mußten wir erst durch den Hof in die uns angewiesenen Räume schaffen, von hie wieder über viele Stiegen hoch bis unter das Dach. Am Gang und im Zimmer durfte nur das Notwendigste bleiben. Gleich in der ersten Nacht stellten wir in den Betten Wanzen fest.

Uns wurde in einer der kommenden Nächte unsere einzige neue Waschschüssel gestohlen. Der schlesische Bademeister, der in jener Nacht Ausgang hatte, würde wohl über den Diebstahl Auskunft geben können.

Jeden Morgen früh 7 Uhr wurden wir durch Pfeifen in den Hof gerufen, wo wir uns in Reih und Glied aufstellen mußten. Nun kamen die Kommissare aus der Umgebung mit Lastautos angefahren und suchten sich die Leute zur Erntearbeit aus, verfrachteten sie auf auf die Wagen und fuhren ab. Wir nannten diesen Frühappell nur den "Viehmarkt". Abends brachten sie die Leute wieder in das Lager. Es gingen die Meisten gern in diese Erntearbeiten, da die Verpflegung im Lager wohl reichlich aber

(Ende des ersten Heftes!)

"Die letzten Tage in der Heimat" II.

sonst unter aller Kritik war und draußen am Lande Aussicht auf besseres Essen bestand. Viele erhielten auch von ihren zuhause weilenden Verwandten oder Nachbarn die erste Zeit auch Essen durch das Tor herein. Die Taschen wurden vom Posten kontrolliert und selten gab es Anstand, freilich nicht jedem war diese Zubuße zuteil. Die meisten mußten sich mit dem Schlangenfraß der Küche begnügen.

Der Kommandant des Lagers, ich glaube er hieß Platschka, ging oft mit der Reitpeitsche durchs Lager. Kaum daß früh die Pfeife zum Appel gerufen hatte, kam er auch schon angefedert, drang in die Zimmer ein und trieb jeden säumigen mit Fußtritten und Schlägen hinaus. Auch ich ging einamal etwas verspätet hinaus und über die Treppe in den Hof, als er in Lauerstellung die Treppe heraufkam, mich haßerfüllt anglotzte und ich sah daß er betrunken war. Ich begegnete seinem Blick furchtlos und ging die Treppe abwärts in den Hof. Nachher erfuhr ich, daß er zwei jüngere Leute, die er noch im Innern des Gebäudes traf, geschlagen habe.

Einmal früh, wir waren schon längere Zeit im Lager, waren wir wieder im Hof angetreten, vor mir in der Reihe stand meine Tochter, die durch eine kunstvolle Op(p)eration des Primarius Dr. Kment nur am Leben erhalten blieb und noch immer schonungsbedürftig war. Plötzlich erschien neben ihr ein Tscheche, dessen Äußeres mir schon Widerwillen einflößte und in mir eine unangenehme Erinnerung wachrief. Er deutete auf meine Tochter, sie zur Arbeit bestimmend. Ich trat vor und sagte laut: "Die ist krank und kann Erntearbeiten nicht leisten." Er gebot mir zu schweigen. Ich entgegnete ihm: "Das ist meine Tochter, sie ist nach einer schweren Op(p)eration der Lunge noch Reconvaleszentin und wird nicht in Arbeit gehen!" Mag ich dies im Zorn mit sehr lauter Stimme vorgebracht haben und in diesem Ton mit diesem Herrn auf diesem Platz noch nie so gesprochen worden sein, plötzlich stand ein Soldat hinter mir, der mich einlud mit ihm zu kommen. Im Abgehen hörte ich, wie meine Landsleute über diesen Gewaltakt laut murrten und protestierten. So kam ich das erstemal in meinem Leben in den Arrest. Der Posten klinkte eine Tür auf; ich nahm aufgeregt Platz und hatte bange Sorge, meine Tochter möchte doch zur Landarbeit abtransportiert worden sein. Plötzlich wurde meine Tür aufgeklinkt und ein älterer Mann lud mich ein(,)in seine Zelle zu kommen. Ich folgte ihm und er sagte mir, daß er der einzige Insasse des Gefängnisses sei. Nachdem ich ihm gesagt hatte, wegen was ich hier sei, erzählte er mir, daß er aus Mähren stamme, über die Grenze nach Bayern wollte, geschnappt wurde und nun schon wochenlang auf den Abtransport nach Bayern warte. Während wir noch erzählten, es dürfte eine Stunde verflossen gewesen sein, kam unser Appellmeister, ein Wiener Tscheche, lachenden Gesichts in die Zelle mit der Weisung, mich zu meiner Familie ins Lager zu begeben. Man hatte nicht gewagt, meine Tochter zur Landarbeit zu verwenden. Vielleicht hat man das Lächerliche meiner Verhaftung eingesehen, deshalb meine Freilassung. Nachmittags ließ sich meine Tochter vom Lagerarzt Dr. Zölch untersuchen, worauf sie überhaupt nicht mehr zum Appell antreten brauchte. Der Tscheche, der mich verhaften ließ, war der Stellvertreter des Kommandanten und derjenige, der mich bei der Einlieferung ausgeplündert und mir die Uhr geklaut hatte; deshalb der momentane widerwillige Eindruck, den ich von diesem Gesichte hatte. Übrigens war der schlechte Ruf des Lagers schon nach Außen gedrungen. Eines Tages erschienen tschech. Geheimpolizisten im Lager, die sich bei den einzelnen Zimmerkommandanten über die Behandlung erkundigten, da hierüber bereits in der ausländischen Presse Notiz genommen wurde. Ich weiß nur, was ein solcher Befragter gesagt hat, und das hätte genügen müssen, Remedur im Lager zu schaffen. Ob es geschehen ist?

Am 26. Juli (Annatag) wurden wir in Eger in Viehwagen einwaggoniert. Tags zuvor erhielt jede Familie pro Kopf 500 RM ausbezahlt. Wir sind 1200 Menschen mit Gepäck in 40 Waggons untergebracht (Egerländer und Schlesier). Unser Waggon hat Nr. 25. Diese Nummer klebt auf jedem Koffer und jedem Gepäck der Insassen. In unserem Wagen sind 10 Wildsteiner Familien mit 31 Personen untergebracht, darunter auch die Frau und der Sohn des nach Bayern verschleppten Gemeindesekretärs der Musikstadt Schönbach mit den Eltern der Frau. In Tirschnitz hält der Zug das erste Mal. Ein tschech. Offizier patroulliert vor unserem Zug und ärgert sich wahrscheinlich, daß wir so guten Mutes sind, denn er sagt, daß wir schon sehen werden, wie es uns gehen werde in Deutschland.

Aus den vorderen Waggons schreien einige: "Wir kommen schon wieder!" Er ist ganz verdutzt und meint: "Euch wird es schon vergehen" und verschwindet nachher.

Wir fahren über Franzensbad. Am Bahnhof alles wie ausgestorben. Am Schweinsbeutel zweigen wir in die Richtung Voitersreuth ab, womit es zur Gewißheit geworden ist, daß wir in die russische Zone kommen.Wir schauen noch einmal nach Wildstein und in das Gelände der Heimat. Ob wir sie noch einmal wiedersehen werden? In Voitersreuth hält der Zug wieder längere Zeit. Wir werden aufgefordert, alles tschechische Geld abzugeben, widrigenfalls wir durchsucht würden. Es gibt jeder, was er noch an Kleingeld bei sich hat. Bei der Überquerung der Grenze unterhalb Schönberg fliegen alle unseren weißen Armbinden aus den Waggons, so daß die Strecke ganz weiß schimmert.

In Bad Brambach ist am Bahnhof ein großes Transparent aufgestellt, das uns willkommen heißt zum Aufbau Deutschlands. Auch werden schon hier Arbeiter für die Textilindustrie geworben. Hier treffen wir auch unsere ehemalige Volksfürsorgeschwester Schnabl als Sanitätsschwester. Sie bringt uns Tee und wir verlassen den Wagen und unterhalten uns mit ihr. - Nun fahren wir durch den Abend einer unbekannten Zukunft entgegen. Es ist schon ganz dunkel; wir fahren oft durch Ruinen. Auf einem Bahnhof vor Plauen, der Zug hält kurze Zeit, kommt ein Mädchen die Wagen entlang und bettelt um Brot ... Auf der Elsterbrücke hält der Zug längere Zeit. Es dürfte Mitternacht sein und nur hier und dort ein Licht leuchtet aus der ungeheuern Tiefe.

Früh bei Tagesanbruch fahren wir über Grimitschau. In Altenburg werden wir am Bahnhof auswaggoniert. Unsere Habseligkeiten müssen wir ausladen und waggonweise aufstapeln. Die Wagen gehen zurück. Wir erhalten hier weder Tee noch Wasser. Es ist sehr heiß. Ich bekam endlich außerhalb des Bahnhofes einen undefinierbaren Tee, ziemlich teuer.Brot wird verteilt. Wir müssen von hier zur Entlausung gehen, weit außerhalb des Bahnhofes. Wir müssen stundenlang stehen und warten und werden von dem diensttuenden Sachsen angebrüllt und fast brutal behandelt, der dürfte irgendwo in einem KZ Kapo gewesen sein. Es ist etwas Abstoßendes in seinem ganzen Wesen. Endlich haben wir den Entlausungsschein in den Händen. Nachmittags gehen die Frauen zur Entlausung und die Männer übernehmen die Bewachung der Habseligkeiten. Abends erhielten wir Eintopf. Spät in der Nacht sollten wir einwaggoniert werden; es stand der Zug schon bereit zur Verladung. Obwohl fern der Donner grollte und ein Gewitter im Anzug war, machte man keine Anstalt, die Waggons zur Verladung vorzuschieben, so sehr sich auch eine Deputation darum bemühte. Als die ersten Regentropfen fielen kamen die Wagen endlich angerollt und bis sie richtig standen, begann auch das Gewitter sich zu entladen. Wir brachten die Säcke und die Wäsche zuerst in die Wagen, nachher erst die Koffer und Kisten, trotzdem war alles sehr naß geworden. Von unserem Wagen war doch das Dach dicht, was bei den anderen nicht überall der Fall war und wir konnten nachher im Innern alles in Ordnung bringen. Aber Schaden hatte der Regen an unseren Sachen viel angerichtet. Bis spät in die Nacht hatten wir zu tun mit der Instandsetzung, damit doch jede Familie auf ihrer Habe einigermaßen ausruhen und schlafen konnte. Am nächsten Tag gegen 10 Uhr Vormittag fuhren wir ab. Es verlautet, daß wir nach Suhl ins Lager kommen. Wir fahren gegen Zeitz; längs der Bahn viele Fabriksruinen. Vor Gera zwischen Ruinen hält der Zug lange Zeit; dann fährt er rückwärts und auf einem Nebengeleise in der Richtung Jena-Weimar-Erfurt. Es ist spät in der Nacht, als wir in Erfurt halten. Nächsten Tag geht die Reise weiter über Oberhof durch einen langen Tunnel nach Suhl. Hier werden wir ausgeladen und unsere Sachen am Perron (=Bahnsteig), der sehr geräumig ist, aufgeschichtet. Der Bahnhof ist auf einer Anhöhe; unten im Tal sind große Fabriksgebäude. Während die Frauen bei den Sachen bleiben, gehen wir Männer unsere Unterkunft zu besichtigen. Wir erhalten Karten für einen der oberen großen Säle des Lagers. Wir müssen unsere Sachen erst vom Bahnhof herunter und über viele Stiegen in ein ebenerdiges Magazin schaffen. Eine sehr anstrengende Arbeit, die aber durch gemeinsames Zusammengreifen erledigt wird. Als wir die letzten Sachen an Ort und Stelle hatten, waren wir sehr müde und froh, uns ausruhen zu können.

Wir haben uns waggonweise etabliert und sind ziemlich wieder beisammen geblieben. Der Saal ist groß und licht. Die Bettstellen übereinander gebaut und dürftig mit Stroh belegt. Wir richten uns ein, erhalten Brot und Tee. Unten im Erdgeschoß ist ein großer Speiseraum, wo das Essen ausgegeben wird. Das Essen wird von der Küche, die sich auswärts befindet, mit Autos ins Lager gebracht. Das muß einmal eine große Waffenschmiede gewesen sein. Doch alle Maschinen, Heizungen, sogar die Aufzüge (Lift) sind abmontiert. Längs der Straßen und Bahngeleise, bis weit hinunter in die Stadt liegen riesige Kisten abmontierter Maschinen zum Abtransport bereit. Die Kost ist hier gut, aber für unsere ausgehungerten Mägen unzureichend, so daß unsere eisernen Rationen manchmal angegriffen werden müssen. Nachmittags kommt immer ein Zeitungsverkäufer in den Speisesaal, der gute Geschäfte macht. Er verkauft immer aus, und viele, wenn sie sich nicht angestellt hatten, erhalten keine Zeitung mehr. Auch Zigaretten gibt es zu kaufen, das Stück 5 bis 10 Mark. - Um in den Speisesaal zu gelangen, müssen wir durch einen großen Saal, wo viele andere Landsleute einquartiert sind, darunter viele alte Leute, abgezehrt und bettlägerig, darunter wohl viele von den Tschechen aus dem Egerer Altersheim Vertriebene. Hier sieht man den Arzt Dr. Schuster, der selbst ein Heimatvertriebener ist, viel beschäftigt. Jetzt, nach dem langen Transport, der Verregnung in Altenburg und der langen unzulänglichen Verpflegung kommt die Reaktion. Man sagt, daß viele tot oder sterbend abtransportiert wurden. Ich und mein Landsmann Fischer Simon erfahren, daß ein Mann aus Eger (Frank) und eine Frau aus Grulich(?) beerdigt werden und bemühen uns um die Bewilligung des Ausganges, um unseren Landsmann die letzte Ehre zu erweisen. Wir erhalten die Bewilligung und gehen nach dem Frühstück ab.

Vor der Leichenhalle des Friedhofs steht nur eine kleine Trauergemeinde uns völlig unbekannter Leute. Der Priester erscheint; der Sarg wird herausgetragen und wir folgen als letzte. Selbst in dem monotonen Sermon des jungen Geistlichen liegt nichts Rührendes, Ergreifendes. Sind unsere Seelen schon so abgestumpft oder sind die Worte des Geistlichen so seelenlos und mechanisch, daß sie in uns nicht Widerhall finden? Es fließen keine Tränen. Nachdem die Zeremonien vorüber sind und wir unserem Landsmann eine handvoll fremder Erde ins Grab geworfen haben, besehen wir die Gräber, die uns als die letzten Ruhestätten der hier bereits verstorbenen Heimatlosen bezeichnet wurden. An die fünfzig sind es, schmucklose, frische Hügel, ohne Kreuz und Namen. Kein Mensch wird sie pflegen. Die Angehörigen werden weiter transportiert und unwillkommen leben sie weit draußen zerstreut in der Femde. Und dieses Schicksal haben Menschen über Menschen gebracht. Wo ist da Christentum, wo ist Menschlichkeit? .............

Gedankenvoll schreiten wir unseren Weg zurück. In einer der Gassen der Stadt Suhl treffen wir eine deutsche Frau sus Polen. Sie erzählt uns, wie zuhause in einer elenden Wohnung ihr Kind lungenkrank zugrundegehen müsse, da sie ihm die notwendige Nahrung nicht geben kann und wie die Menschen hier gegen die Fremden so lieblos sind ....

Unsere 14tägige Quarantäne geht dem Ende entgegen. Wir werden gegen Typhus geimpft und entlaust. Unsere Sachen, im unteren Gelaß des Lagers, müssen des Nachts bewacht werden, da jemand von außen durch das Fenster eingedrungen ist, einige Koffer erbrochen und Sachen entwendet hat. Am 11. August erhalten wir unsere Entlassungspapiere. Abends schaffen wir unsere Sachen auf den Bahnhof; morgen früh sollen wir abgehen. Wir Männer wachen diese Nacht bei unseren Sachen auf dem Perron des Bahnhofs. Die Frauen sind noch im Lager. Ich ruhe eingebettet zwischen Säcken und Koffern; obwohl August, sind die Nächte kühl und mich fröstelt. Endlich dämmert der Morgen, doch es dauert noch Stunden, bis die Wagen beigestellt werden. Wo werden wir morgen rasten?

Wir fahren über Erfurt die Strecke gegen Nordhausen. Erfurt zeigt in der Nähe des Bahnhofs bis weithinaus an der Bahnstrecke große Schäden der Bombenangriffe. Außerhalb Erfurts weite Strecken Gemüse– und Obstgärten, zum Teil noch nicht abgeerntet; Thüringen macht den Eindruck eines fruchtbaren Landes.

Das Land verengt sich, es kommt Bergland mit Laubwäldern. Nun beginnt schon das Abhängen von Waggons, die entladen werden; wir nehmen Abschied von den uns bekannten Familien. Fast auf allen Stationen werden jetzt Wagen abgehängt und entladen.

In der Station Sondershausen wird mit anderen auch unser Wagen entladen. Rechts der Bahnstrecke lagert unser Gepäck und wir sind neugierig, wohin wir verfrachtet werden. Es erscheint ein Lastauto und ein Personenwagen. Ein etwas beleibter Herr hält Musterung unter uns und wir, Familie Zölch, Kummer und H. Schmidt werden ausgewählt nach Stockhausen. In unseren Familien befinden sich meist junge, rüstige Leute; nur ich mit Frau K. sind die ältesten. Wir sind 13 Personen.

Unsere Sachen werden auf das Lastauto verfrachtet; einige Personen nehmen darauf Platz, andre gehen auf den kürzeren Bahnsteig zum Ort. Ich werde eingeladen im Personenauto Platz zu nehmen, und wir fahren über Sondershausen nach Stockhausen. Auch hier fahren wir durch Ruinen und halten in Stockhausen vor dem Gasthaus "Zum halben Mond". Inzwischen sind auch die Angehörigen gelandet und auch das Lastauto. Wir schaffen unsere Sachen durch den Hof des Gasthauses in den Saal und beginnen uns für die Nacht einzurichten. Es besuchen uns zwei Landsleute aus der Gegend von Falkenau, sie arbeiten am Kalischacht, geben uns Zigaretten, und wir erfahren einiges über die örtlichen Verhältnisse. Die erste Nacht verbringen wir im Saal auf improvisierten Lagern. Früh werden offiziell unsere Personalien aufgenommen und wir erhalten die Lebensmittelkarten. Meine Tochter Z. mit den Kindern; Familie K. und Schmidt erhalten noch an diesem Tage Wohnung. Ich übersiedle mit meiner fünfköpfigen Familie einstweilen in ein Fremdenzimmer des Gasthauses.

Ich besichtige die Wohnung meiner Tochter, deren Mann sich in Italien in englischer Gefangenschaft befindet und die in der "Neuen Straße" ein schmutziges, feuchtes und dunkles Gelaß bezogen hat; das untere kleine Zimmer ist in einem etwas besseren Zustand. Die Familie K. wohnt auch eng, zu dritt in einer elenden Kammer und tragen sich mit Auswanderungsgedanken nach Bayern.

Am 15. August erhalten wir vom Wohnungskommissar die Nachricht, daß wir Wohnung in der Friedrichstraße beziehen können. Wir schaffen unsere Sachen gleich dorthin. Es ist ein neues schönes Haus. Stiegen und Zimmer spiegelblank gebohnert?. Wir wissen, daß wir nicht gern gesehen sind, doch das ficht uns nicht an, – es war nicht unser Wille in dieses ungastliche Land zu kommen.

Schon als wir unsere Sachen über die Stiege schafften, hörte ich die Frau sagen: "Soviel Sachen und soviel Leute." Das Zimmer ist klein, aber hell und sonnig; als Mobilar ist nur ein Kleiderschrank da. Die Beleuchtung ist, wie man sieht, frisch abmontiert und nur ein hoher Wärmeofen ist vorhanden. Wir sollen das Zimmer nebenan, das leer steht, noch bekommen. Der Kommissar verlangt den Schlüssel, aber die Frau gibt den Schlüssel nicht heraus und macht Einwendungen, der Kommissar beauftragt sie, das Zimmer bis morgen früh zu übergeben.

Wir haben unsere Betten ausgepackt und schlafen am Fußboden. Der Schlüssel zur Nebenstube wurde uns auch später nicht ausgefolgt und wir beschlossen uns mit dem einzigen Zimmer vorläufig zu begnügen, um alles zu vermeiden, was Streit geben könnte. Es ergibt sich auch, daß unser Benehmen bei den Hausleuten Eindruck macht. Da wir keine Feuerung haben, kocht uns die Hausfrau den Frühkaffee. Das Mittagessen holen wir uns aus der Gemeinschaftsküche oder gehen dorthin, wo wir im großen Speisesaal alle unsere Landsleute treffen und uns gegenseitig austauschen können. Das Essen ist billig und reichlich, aber auch reichlich geschmacklos, so daß wir nach einigen Wochen beschließen, uns zu Hause auf den hohen Wärmeofen selbst zu kochen. Ich kaufe mir eine neue Bettstelle mit Drahteinlage; eine Bettstelle erhalte ich von einem Friseur geliehen. Ich bekäme noch eine Bettstelle zu kaufen, aber es ist keine Möglichkeit, sie unterzubringen. Es hockt ohnehin eins auf dem andern und erfordert akrobatische Gelenkigkeit von einem Winkel ind den andren zu gelangen. Meine Tochter Kathi hat ein kleines Zimmer in der Gartenstraße erhalten, aber noch immer ist es beängstigend eng in unserem Wigwam, und es ergibt sich, daß für die Thüringer Wohnbegriffe, die fünfzig Kilo Reisegepäck, die uns der Tscheche mitnehmen ließ, doch noch zuviel waren.

Die Gegend hier zwischen den grünen Bergen ist sehr schön und auch der Menschenschlag ist ein schöner.

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