Eine politische Legende:
Die Massenvertreibung der Tschechen aus dem Sudetengebiet
nach dem Abkommen von München 1938

von Edith Bergler, Bayreuth

 

Der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Benesch und die Tschechoslowakische Regierung hatten die Sudetengebiete bereits am 21. September 1938 freigegeben. Daher trafen sich am 29. Septpember 1938 in München der britische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Ministerpräsident Edouard Daladier, der italienische Diktator Benito Mussolini und Adolf Hitler, um die Bedingungen und Modalitäten dieser Gebietsabtretung im sogenannten "Abkommen von München" schriftlich zu fixieren und zu unterzeichnen.

Wegen der bereits erfolgten Gebietsabtretung beginnt der Vertragstext:

"Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die danach zu ergreifenden Maßnahmen übereingekommen...:"

Vertragsgemäß hatten tschechoslowakische Militär- und Polizeiverbände das Sudetengebiet bis zum 10. Oktober zu räumen.

Aus dieser Vorschrift versuchen bis heute gewisse tschechische Kreise, Politiker der Bundesregierung und wenig informierte Wissenschaftler eine "Massenvertreibung" der Tschechen aus dem Sudetengebiet zu konstruieren, mit der die Vertreibung von mehr als 3 Millionen Sudetendeutschen 1945/46 gerechtfertigt werden soll.

Dazu äußerte sich im Jahr 1992, in dem der "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit" entstand, der Prager Historiker Jan Křen am 31. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Die sogenannte >Vertreibung der Tschechen< aus den Grenzgebieten, die in der Debatte um den Nachbarschaftsvertrag zum Politikum geworden ist, ist weder ein organisierter Akt der Deutschen noch der Tschechen gewesen. 200.000 bis 300.000 Tschechen, vor allem Polizisten, Verwaltungsbeamte und Funktionäre der tschechischen Grenzlandbewegung, sind damals aus Furcht vor den Henlein-Anhängern geflohen. Die meisten sind zu Fuß unterwegs gewesen, da es sich oft nur um Distanzen von wenigen Kilometern gehandelt hat. Etwa die gleiche Anzahl Tschechen ist zurückgeblieben. Einige tausend sind sogar zurückgekehrt, da die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Binnenland sehr schlecht waren."

Der zum Abkommen von München gehörende "Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen" vom 20. November 1938 ermöglichte bis zum 10. Juli 1939 Übertritte von Tschechen aus dem Abtretungsgebiet und von Deutschen in dieses, wobei Tschechen und Deutsche, die sich vor 1910 im jetzt andersnationalen Gebiet niedergelassen hatten, unberührt blieben.

§12 dieses Vertrags schrieb die Mitnahme oder das Nachholen des gesamten beweglichen Besitzes für Tschechen und Deutsche vor.

Die Transportkosten der umsiedelnden tschechoslowakischen Staatsangestellten regelte eine Maßnahme des Verkehrsministeriums vom 18. Januar 1939: "...Laut Erlaß haben Staatsangestellte freie Wahl, wie sie umsiedeln wollen. Die Kosten erstattet das Verkehrsministerium..." (Veröffentlicht in der Zeitung České slovo am 25. Januar 1939).

Diese galt hauptsächlich für Staatsdiener, die nach der Sprachenverordnung von 1920 in das deutschsprachige Sudetengebiet zugezogen waren und Zehntausende altösterreichische Beamte wegen deren mangelnder Tschechischkenntnisse in die Arbeitslosigkeit gedrängt hatten. Tschechisch war die Amtssprache in der am 28. Oktober 1918 erstmals gegründeten Tschechoslowakei geworden, die aus den österreichischen Landesteilen Böhmen, Mähren, Österreich-Schlesien und der Slowakei gebildet worden war.

In Folge dieser Verordnung waren im Jahr 1930 in der Bezirkshauptstadt Eger/Cheb 35,2% aller Stellen für Staatsbedienstete mit Tschechen besetzt. Der tschechische Anteil der Gesamtbevölkerung des Bezirks betrug aber nur 7,1%.

Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik in Brünn verwendete in einer Entscheidung vom 16. März 1995 für diesen Vorgang nicht mehr den falschen Terminus "Vertreibung", sondern sprach von einem "zwangsweisen Weggang" (nucený odchod).

Wäre es bei diesem "zwangsweisen Weggang" eines Teils der Tschechen aus den Sudetengebieten auch nur zu einem einzigen Verbrechen gekommen, das im weitesten Sinn mit den Greueltaten verglichen werden könnte, die sich bei der Austreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei ereigneten, hätte es in einer einzigen der etwa 3.700 sudetendeutschen Gemeinden eine äußerliche Kennzeichnung von Tschechen gegeben, wie das nach Kriegsende für die Deutschen in der Tschechoslowakei vorgeschrieben war, und hätte ein einziger der über 50 damaligen Landräte im Sudetengebiet eine Vertreibungsanordnung in Plakatform oder in Handzetteln herausgegeben, so wie das bei der Vertreibung der Deutschen gehandhabt wurde, wäre dies mit Sicherheit tausendfach publiziert worden.

(Quelle: Fritz Peter Habel, Eine politische Legende, München 1996)

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