Die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" (DEKiBMS)

von Edith Bergler, Bayreuth

 

Im Kaiserreich Österreich-Ungarn waren die deutschen und tschechischen evangelischen Christen, trotz des besonders ab 1848 hervortretenden Nationalismus, im gemeinsamen Konsistorium in Wien vereinigt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand aus Böhmen, Mähren, (Sudeten)Schlesien und der Slowakei (bis dahin Teile des Kaiserreichs Österreich-Ungarn) am 28. Oktober 1918 der erste tschechosowakische Staat, die Tschechoslowakei. Da Wien nun im Ausland lag, konnten die evangelischen Christen im dortigen Konsistorium nicht verbleiben.

Bereits am 17. und 18. Dezember 1918 vereinigten sich die tschechischen Evangelischen zur Českobratrská Církev Evangelická (Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder, EKBB). Sie empfanden die Trennung von den deutschen Evangelischen als Befreiung. Bis 1930 konvertierten rd. 150.000 Tschechen zum Protestantismus, um sich in der EKBB von den Deutschen abgrenzen zu können.

Die deutschen Evangelischen (ca. 5% oder schließlich 175.000 der Deutsch-Böhmen, später Sudetendeutschen) mußten sich mit der gegen ihren Willen und unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zustande gekommenen Eingliederung Deutsch-Böhmens (Sudetengebiet) in die Tschechoslowakei abfinden.

Auf ihrem 1. Kirchentag am 25. und 26. Oktober 1919 in Thurn (heute Tuřani) gründeten sie die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" (DEKiBMS).

Dr. Dr. Erich Wehrenfennig (geb. 9. April 1872) aus Gablonz (heute Jablonec) wurde zum Kirchenpräsidenten gewählt.

Ihre Verfassung (maßgeblicher Autor: Pfarrer Gustav Fischer aus Eger, heute Cheb) legte Deutsch als Kirchen- und Unterrichtssprache fest, obwohl Deutsch in der Tschechoslowakei keine zweite Staatssprache geworden war und daher nicht als Amtssprache galt. (Bei der Gründung des tschechoslowakischen Nationalstaats waren 3,3 Millionen Deutsche neben 6,8 Millionen Tschechen die zweitstärkste Volksgruppe im Staat, in dem es von Anfang an um die Tschechisierung der deutschen Gebiete ging.)

Wegen der Verwendung der deutschen Sprache in amtlichen Schreiben wurde beispielsweise Dr. Ferdinand Schenner, Senior des Mährischen Kirchenkreises in Brünn (heute Brno), im Mai 1925 mit 10 Tagen Arrest bestraft.

Im Februar 1920 erfolgte die staatliche Anerkennung der DEKiBMS durch das tschechoslowakische Kultusministerium.

Beide Kirchen wahrten Distanz, die sich entsprechend der nationalen Polarisierung beider Volksgruppen vergrößerte und in tschechoslowakischen Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber der DEKiBMS sowie ihrer Amtsinhaber gipfelte:

1935 betonte Kirchenpräsident Dr. Dr. Erich Wehrenfennig, der geistige Zusammenhang der DEKiBMS mit dem kirchlichen Deutschland sei eine Lebensnotwendigkeit. Folglich beobachtete man die entgegengesetzten Strömungen in der Evangelischen Kirche Deutschlands, die sich nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft entwickelten. Hier standen sich die Anhänger der "Bekennenden Kirche", die sich an Bibel und Bekenntnis ausrichteten, und die Sympathisanten der "Glaubensbewegung Deutsche Christen", die ein "arteigenes" Christentum forderten, gegenüber.

Auch die Pfarrer der DEKiBMS waren nicht einer Meinung.

Am 23. Mai 1937 einigte man sich in Teplitz (heute Teplice) beim Mittelböhmischen Gemeindetag darauf, daß das Volkstum als eine Schöpfungsordnung Gottes gesehen werden müsse, weil "das Volk nach Gottes Willen entstanden und nichts Zufälliges sei".

Nach dieser Klarstellung legten an Ostern 1938 die gesamte evangelische Pfarrerschaft und die Kirchenleitung ein öffentliches Bekenntnis zu Konrad Henlein, dem Gründer der Sudetendeutschen Partei (SdP), ab.

Gleichzeitig beschloß man die Hinführung der Evangelischen Jugend zum Deutschen Turnverein.

Der Anschluß des Sudetengebiets an das Deutsche Reich (29. 09. 1938) wurde freudig begrüßt, weil man endlich mit dem "Mutterland der Reformation" vereint war.

Durch diesen Anschluß verblieben 8 der 69 Pfarrgemeinden der DEKiBMS im restlichen Staatsgebiet der Tschechoslowakei: Prag (heute Praha), Pilsen (heute Plzeň), Budweis (heute Čes. Budějovice), Brünn (heute Brno), Olmütz (heute Olomouc), Iglau (heute Jihlava), Mährisch-Ostrau (heute Ostrava) und Friedek (heute Frýdek)

Zu Polen kamen: Oderberg (heute Bohumín) und Tschechisch-Teschen (heute Česky Těšín)

Wehrenfennig meinte dazu, die Kirche werde jetzt zwar "kleiner, aber glücklicher sein".

Dem Nationalsozialismus stand er naiv und gutgläubig gegenüber. In seinem Bericht über die kirchliche Lage vom Herbst 1938 ist zu lesen, daß die Kirche niemandem im Wege stehe und daher den Schutz des Führers genieße, "der Zehntausenden von Priestern, die ihre kirchlichen Pflichten richtig erfüllen, solches zugesagt hat."

Schon im Jahr 1939 bekam die DEKiBMS deutlich zu spüren, daß ihre "deutsch-evangelische" Gesinnung den Nationalsozialisten nicht genügte.

Kirche und Pfarrer mußten sich als "volksfeindlich" bezeichnen lassen. Die Pfarrer hatten per "Ariernachweis" ihre "Reinrassigkeit" zu beweisen. Obwohl es für jeden Pfarrer der DEKiBMS eine Selbstverständlichkeit war, Mitglied der SdP zu sein, durften die Pfarrer nicht in die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) eintreten und mußten sämtliche öffentlichen Ämter niederlegen.

Die Mitgliedschaft in der SdP zog nämlich nicht automatisch die Mitgliedschaft in der NSDAP nach sich. Die SdP wurde nicht als gleichwertig anerkannt, weil sie sich nur um die "Erhaltung des Deutschtums auf dem Boden der ehemaligen Tschechoslowakei" bemüht habe.

Damit habe sie "keinen Kampf geführt, der mit der Entwicklung der NSDAP" zu vergleichen wäre. Unter "Kampf" war die Bekämpfung von Juden und Demokraten zu verstehen.

Da die DEKiBMS als wenig zuverlässig bei der Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie galt, obwohl sie zur Verfolgung der Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten schwieg und es innerhalb der Kirche keine Widerstandsbewegung gab, beschnitt man ihre Möglichkeiten der Einflußnahme.

Sämtliche amtlich eingetragenen kirchlichen Vereine wurden aufgelöst.

Folglich mußten schließen:

Die evangelischen Diakonissenhäuser in Prag (heute Praha), Aussig (heute Ústi), Zöptau (heute Sobotín) und Doppitz (heute Dobětice), das Altenheim in Zöptau, der Sonnenhof, ein Heim für schwererziehbare Jungen in Habstein (heute Jestřebí), die Anstalt in Jechnitz (heute Jesenice), das evangelische Hospiz in Karlsbad (heute Karlovy Vary), das Waisenhaus in Haber (heute Habřina) und das Deutsche Evangelische Schülerheim in Eger (heute Cheb).

Fonds der evangelischen Gemeinden und der Kirchenleitung wurden enteignet und gemeindeeigene Konfessionsschulen in öffentliche Schulen umgewandelt.

Beim 5. und letzten Kirchentag der DEKiBMS am 30. und 31. August 1940 in Gablonz (heute Jablonec) fand die Eingliederung der DEKiBMS in die Deutsche Evangelische Kirche in Berlin statt.

Die DEKiBMS hieß nun: "Deutsche Evangelische Kirche im Sudetengau und im Protektorat".

Gleichzeitig wählte das Gremium Pfarrer Hugo Gerstberger aus Eger (heute Cheb) einstimmig zum Stellvertreter des Kirchenpräsidenten und ernannte ihn zum Oberkirchenrat.

Nach der Kapitulation Deutschlands (8. Mai 1945) wurde den evangelischen Sudetendeutschen auch im kirchlichen Bereich durch die Anordnungen der tschechoslowakischen Regierung die Verfügungsgewalt entzogen.

Dadurch hörte die Verbindung der Kirchenleitung mit dem Ascher Kirchenkreis, West- und Mittelböhmen sowie mit dem Mährischen und Schlesischen Kirchenkreis auf.

Einige Monate bekamen die evangelischen Pfarrer monatlich noch 2.000 Kč ausgezahlt. Dann mußten die Zahlungen eingestellt werden, weil die Kirchenleitung bei den Banken kein Geld mehr abheben durfte. Mehrere Pfarrer lebten schließlich von den Kollektengeldern, was nach Erlaubnis des Kirchenleitung geschah.

Im Herbst 1945 beantragte die Kirchenleitung der DEKiBMS in einem Memorandum die Eingliederung ihrer Kirche in die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB), da beide Kirchen während der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in einer Kirche vereint gewesen waren.

Das Gesuch wurde von der 1. Nachkriegssynode der EKBB am 4. Dezember 1945 angenommen.

Die Regierung der Tschechoslowakei verweigerte aber ihre Zustimmung zu dieser Integration.

Am 4. Februar 1946 wurden Kirchenpräsident Dr. Dr. Erich Wehrenfennig, sein Stellvertreter OKR Hugo Gerstberger sowie weitere Oberkirchenräte und Pfarrer ohne Angabe von Gründen von tschechoslowakischer Polizei verhaftet und teilweise jahrelang interniert.

Am 11. Februar 1946 übernahm eine Verwaltungskommission der EKBB im Einklang mit der tschechoslowakischen Regierung die Kirchenleitung der DEKiBMS und verfügte kommissarisch auch über das kirchliche Vermögen, die kirchlichen Gebäude und Matriken.

Die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" war dadurch rechtlos geworden.

 

Diese widerrechtliche Enteignung legitimierte der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš am 6. Mai 1948 rückwirkend zum 4. Mai 1945 mit Dekret 131:

"Über die Liquidierung der Deutschen Evangelischen Kirche Böhmens, Mährens und Schlesiens"

§1 Die Deutsche Evangelische Kirche Böhmens, Mährens und Schlesiens hat am 4. Mai 1945 aufgehört zu bestehen.

§3 Das gesamte unbewegliche und bewegliche Vermögen...geht in das Eigentum des Tschechoslowakischen Staates über.

Kirchenpräsident Dr. Dr. Erich Wehrenfennig wurde am 19. August 1946 ohne Verhandlung aus dem Kreisgerichtsgefängnis in Reichenberg (heute Liberec) entlassen und am 21. August in die Sowjetzone vertrieben.

In Stollberg in Sachsen übernahm er die 2. Pfarrstelle. Am 29. März 1952 übersiedelte er nach Feuchtwangen in Bayern. 1955 wurde in versöhnender Anerkennung seiner Würde durch eine Delegation der EKBB sein Bischofskreuz in Berlin übergeben. Am 11. April 1968 ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

 

 

 

Die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien
(in der Zerstreuung)

 

Die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" bestand nach der Vertreibung 1945/46 weiter, nämlich "in der Zerstreuung".

 

Der 1. Evangelische Sudetendeutsche Kirchentag fand 1959 in Kassel statt.

Kirchenpräsident Dr. Dr. Erich Wehrenpfennig betonte dort, daß die evangelischen Sudetendeutschen, die ab August 1940 Teil der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin gewesen waren, von Anfang an mit dem "Stuttgarter Schuldbekenntnis" von 1945 übereingestimmt haben, in dem der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen die Schuld verbalisierte, die die Evangelische Kirche zusammen mit dem deutschen Volk auf sich geladen hatte.

An Pfingsten 1964 verkündete Wehrenpfennig die Versöhnungsbotschaft der evangelischen Sudetendeutschen an die tschechischen Kirchen.

Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) ignorierte sämtliche Kirchentage und kirchlichen Publikationen der DEKiBMS (in der Zerstreuung) sowie die Versöhnungsbotschaft Wehrenpfennigs, während die ausländische Presse davon berichtete.

Nach dem Tod des Kirchenpräsidenten (11. April 1968) löste sich die "Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien (in der Zerstreuung)" auf.

Heute sind die evangelischen Sudetendeutschen in der "Johannes-Mathesius-Gesellschaft - Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher" zusammengeschlossen.

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Quellen:

Habel, Fritz Peter: Dokumente zur Sudetenfrage, München, 2003

Heinke–Probst, Maria: Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien 1918 – 1946, in: Erbe und Auftrag, Nr. 35 – 38 (Eckert Alfred, Hrsg., Hersbruck 2000⁄01)

Institut für Reformations– und Kirchengeschichte der böhmischen Länder (Hrsg.): Memorandum zur Lage der "Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" (in der Zerstreuung), Kirnbach 1966

Wehrenpfennig, Erich: Mein Leben und Wirken, Melsungen 1956

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