Unser Egerland, 37. Jahrgang, 10. Heft (Weinmond), 1933

Die Herkunft der Deutschen in Nordwestböhmen

von Rudolf Käubler, Leipzig

Seit dem Bekanntwerden der Markomannentheorie von B. Bretholz ("Geschichte Böhmens und Mährens", Reichenberg 1922-24) ist soviel Material zur Frage der Herkunft der Deutschen in Böhmen zusammengetragen und mit Eifer für und gegen Bretholz abgewogen worden, daß man die Frage bereits zu entscheiden gewagt hat. Der Entscheid ist gegen Bretholz, zugunsten der Kolonisationstheorie ausgefallen, die besagt, daß sich keine nennenswerten germanischen Reste bis in die Gegenwart erhalten haben, sondern daß das Deutschtum Böhmens durch Zuzug aus den benachbarten reichsdeutschen Ländern während der Zeit der bäuerlichen und bergbaulichen Kolonisation entstand. Diese Theorie erscheint umso gesicherter, als zwei Wissenschaften, Geschichte und Sprachwissenschaft, zu ihrem Siege beitrugen. Genannt seien nur die umfassenden Darstellungen von W. Wostry ("Das Kolonisationsproblem", Prag 1922) und die neue von E. Schwarz ("Die Ortsnamen der Sudetenländer als Geschichtsquelle", München 1931).

Jedoch ist auffällig, daß beide Wissenschaften von Anfang an ihre Beweismittel in dieser Frage austauschen. Die Geschichte nimmt ihre Beweisstücke zu dem Satze, daß das Deutschtum Böhmens von außen herein, im Falle Nordwestböhmens also von Sachsen und Bayern, ins Land gekommen sei, zum Teil aus der Sprachwissenschaft. So sagt Wostry ganz allgemein, das Fehlen einer Kernmundart in Böhmen, andererseits die Tatsache der Verwandtschaft der Mundarten Böhmens mit den benachbarten außerhalb Böhmens beweise, daß das Deutschtum kolonisatorisch die Grenzen Böhmens überwunden habe und ins Land hereingekommen sei. Nach J. Perl ("Der Oberpfälzer Wald", Diss. Leipzig 1932, S. 32) beweisen die Ortsnamen und Mundarten in der Umgebung von Lichtenstadt die Herkunft der dortigen Bevölkerung aus der Oberpfalz. Und H. Muggenthaler ("Die kolonisatorische und wirtschaftliche Tätigkeit eines deutschen Zisterzienser Klosters", München 1924, S. 40) schreibt wörtlich: "Besonders im südlichen Teil des Egerlandes, im Waldsassener und Meringer Rodungsgebiet, wurde es ( = das bayerisch-nordgauische Bevölkerungselement) fast ausschließlich zur Besiedlung von Neuland verwendet; die zahlreichen Ortsnamen auf "reuth" sind ein klarer Beweis dafür. In dem am Nordrand des Egerlandes gelegenen Schönbacher Ländchen überwiegen die Namen auf "grün" und "rode". Dort spielte für die Siedlungstätigkeit die thüringische Bevölkerung die Hauptrolle ..." Die Historiker nehmen also sprachliche Erscheinungen als Voraussetzung für die geschichtliche Folgerung, daß das Deutschtum durch Zuzug aus nichtböhmischen Gebieten entstanden sei.

Was tut in dieser Sache die Sprachwissenschaft? Sie stützt ihre These der Zuwanderung deutscher Elemente umgekehrt auf die Historie. Karg (Frenzel-Karg-Spamer: "Grundriß der sächsischen Volkskunde", Leipzig 1932, S. 220) sagt: "Daß tatsächlich auch geschichtliche Fälle solcher Doppelbewegung (= gemeint sind Kolonistenzüge aus der Oberpfalz heraus über das Egerer Gebiet in das Erzgebirge hinein und egerabwärts) aus der Gegend von Eger heraus sich nachweisen lassen, dafür bietet die kolonisatorische Tätigkeit der Waldsassener Mönche ein überzeugendes Beispiel." (Ganz ähnlich Schwarz, a.a.O., S. 444, wo er über die Herkunft der deutschen Ansiedler schreibt: "Besonders wichtig wurden die Stiftsgründungen".). So ist man wieder auf die den Stiften und Klöstern gehörigen Besitzungen zurückgekommen, für die der Historiker den Nachweis der Besiedlung mit nichtböhmischen Deutschen aus den sprachlichen Voraussetzungen ableitet (siehe oben), zu denen andererseits der Sprachwissenschaftler eben die historischen Belege sucht. Es liegt also ein trügerischer Kreisschluß vor, in dem die Prämisse schließlich mit der Folgerung bewiesen wird.

Aber die Aufdeckung dieses circulus vitiosus bringt die gegenwärtig führende Auffassung, daß das Deutschtum Böhmens sich aus deutscher Zuwanderung rekrutiere, noch nicht ins Wanken; denn es führen ja beide Wissenschaften noch Beweisstücke vor, die aus eigenem Arbeitsbereich stammen. So zieht Karg den Schluß auf bayerische Einwanderung in das Egerer Gebiet aus der topographischen Verbreitung sprachlicher Erscheinungen. Er sagt (a.a.O., S. 219): "Die Sprachatlaskarten deuten darauf hin, daß aus Bayern heraus, ungefähr aus der Richtung Regensburg, main- und naabaufwärts Züge durch die Pässe im Fichtelgebirge nach Böhmen hineingegangen sind, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach in der Egerer Gegend begegnet sind. Von dort geht eine Doppelbewegeung aus: Einmal arbeitet man kolonisatorisch ins Erzgebirge hinein, zum andern zieht man des Egertal abwärts, erreicht die Elbe, überschreitet sie, usw."

Dieser Schluß geht jedoch zu weit. Wohl kann man aus der topographischen Verbreitung sprachlicher und volkskundlicher Erscheinungen, aus der Lage und Form der in NW-Böhmen vorhandenen "Staffeln" sprachliche und überhaupt kulturelle Bewegungen oder größere Strömungen erschließen. Diese Wellen aber Siedlerströmungen gleichzusetzen, wie es oben geschieht, dafür liegt in dieser großzügigen Verallgemeinerung für Nordböhmen keine Veranlassung vor. Die Sprachwissenschaft hat meines Erachtens noch kein methodisch einwandfreies Verfahren, um Kulturströmungen, die an Siedlerbahnen kausal gebunden sind, von ungebundenen zu unterscheiden. (Vergl. auch hierzu Th. Frings: "Sprache und Siedlung im mitteldeutschen Osten", Leipzig 1932)Wir müssen für den Bereich des Egerlandes bei der vorsichtigsten Gleichung Sprachströmung = Kulturströmung bleiben.

Auch die von Schwarz am Beispiel des Egerlandes vorgebrachten Argumente sind keine eindeutigen Beweise für die Ankunft von Siedlern im Egerlande. Sehen wir uns die Schwarzsche Beweisführung näher an:

1. Alttschechisch g zu h: Seit 1169 ist der sprachliche Wechsel von alttschechischem g zu tschechischem h auch in Ortsnamen unrkundlich bezeugt (E. Schwarz: "Zur Geschichte der deutsch-tschechischen Ortsnamen" in : Zeitschrift für Ortsnamenforschung, 1929, Band 5, Heft 1). Der Lautwandel muß also noch vor diesem Jahr stattgefunden haben. Wenn die deutschen Formen tschechischer Ortsnamen noch das g haben, so beweist das eine Ansässigkeit der Deutschen schon vor dieser Zeit. Die meisten Orte Böhmens haben aber bereits h, und Schwarz spielt nun dieses Material gegen die Bretholzsche Markomannentheorie aus. Das Egerland nimmt jedoch in dieser Angelegenheit eine Sonderstellung ein. Es hat die alten Formen auf g in Eger (Stadt), Priegnitz (einer Vorstadt von Eger), Pograth (einem Dorf an der Wondreb) und Trogau (einem Dorf bei Schloß Seeberg), während sich im benachbarten Tepler Hochland schon h-Formen finden: Hollowing, urkundlich 1273 Holubino. Es ist also billig, den Egerländer Befund zugunsten der Bretholzschen Auffassung zu deuten.

Aber Schwarz führt gerade für diesen Lautwandel noch den Fall "Mühlessen" an, der zu dem weitgehenden Schluß ermutigt: "Die im Westen und um Eger liegenden Ortsnamen wurden noch mit g gehört, das östliche Mühlessen schon mit h. Die Übernahme hat sich demnach vor und nach 1170 vollzogen. Man sieht, was nicht unwichtig ist, daß nicht alle slawischen Namen gleichzeitig, sondern mit dem Fortschreiten der deutschen Kolonisation hinter einander bekannt geworden sind." Dieser große Trumpf verliert aber bei genauerem Zusehen alle Kraft: Keine der alten urkundlichen Nennungen des Ortes Mühlessen enthält jenes aus g entstandene h (H. Gradl: "Die Ortsnamen im Fichtelgebirge und in dessen Vorlanden", Bayreuth 1890, 2. Teil, S. 136: 1219 de Milozt, 1300 Miloz, 1303 Miloz, 1306 Milozze, 1395 Mylossen.). Gradl läßt darum auch die Ableitung von einer h-losen oder h-tragenden Vorform offen. Schwarz setzt dieses h aber ein, um sofort (a.a.O., S. 340) seine Schöpfung auswerten zu können: "Dieser Name ist nicht vor 1170 den Deutschen bekannt geworden, weil tschechisch g schon zu h geworden war."

2. Die Behandlung des tschechischen b und v: Eine Gegenbeweisführung erübrigt sich. Schwarz gibt selbst zu, daß sein Standpunkt von der Wissenschaft noch nicht allgemein angenommen sei (a.a.O., Kap. 43, S. 316, Anm.).

3. und 4. Ersatzverhältnisse der s- und sch-Laute. Deutsche Formen mit r gegenüber tschech. ř : Diese beiden Gruppen sind für die Frage der deutschen Kolonisation im Egerlande nicht verwendbar, da sie nur für die Zeit um 1300 aufschlußreich sind, für welche bereits mit dem Abschluß der Kolonisation im Egerlande gerechnet werden muß.

Der Ortsnamenbefund läßt sich also für den Kern Nordwestböhmens, für das Egerland, nicht in der Schwarzschen Weise ausdeuten. Auch der Sprachatlas wird zur Unterscheidung bzw. Gleichstellung von Kulturströmungen und Siedlerbahnen kaum genügen. Helfen kann hier nur die historische Methode.

In der Tat konnte auch von historischer Seite ein urkundlicher Beleg, ein einziger, zur Stützung der Auffassung, daß die Kolonisation in NW-Böhmen durch deutsche Einwanderung erfolgt sei, herbeigezogen werden. Karg (a.a.O., S. 220/221) benutzt ihn, wenn er sich auf Muggenthaler beruft und auch dessen Karte mit einer kleinen, aber eindrucksvollen Änderung der Darstellungsmanier abdruckt. Muggenthaler wiederum leitet seine Auswandererzüge von diesem Beleg ab, den er aus Gradls "Monumenta Egrana" (Gradl: "Monumenta Egrana", Eger 1884) genommen hat. Diese enthalten jedoch nicht den Originaltext, sondern nur eine abgekürzte Übersetzung der bei Emler (Emler: "Regesta Bohemiae", II, Prag 1882) vollständig abgedruckten lateinischen Urkunde vom Jahre 1230. Es ist interessant, den Werdegang von Übersetzung und Interpretation dieser Urkunde zu verfolgen.

I. Emler, Regesta Bohemiae, Urkunde v. J. 1230, Nr. 249, S. 94:

... et ne persone(ae) aut familia predictorum fratrum intrantes et exeuntes terram nostram sive pro educendis victualibus seu inducendis lignis per rivum, qui dicitur Egra, sive alias undecumque versum theloneum solvere conpellantur, omnimodis inhibemus.

Übersetzung des Verfassers:

(Premizl) gebietet, daß die nach oder von unserm Lande kommenden Mönche oder ihr Gesinde für die Ausfuhr von Lebensmitteln oder die Holzeinfuhr auf der Eger oder auch sonst allenthalben nicht durch Zollerhebung belastet werden sollen.

II. Gradl, Monumenta Egrana, 1884, Nr. 240, S. 86:

Premizl befreit das Kloster von allem Zolle, den es sonst entrichten müßte von Personen, wie Lebensmitteln, ebenso von Holz, welch letztere es auf der Eger nach Böhmen flößt.

III. Mugggenthaler, a.a.O., 1924, S. 41:

Man stellte auf der Eger große Flöße aus Langhölzern zusammen, verlud auf ihnen die neuen Ansiedler und ihre Ausrüstung und führte so Auswandererzüge nach Böhmen.

Zu I.:

a) Die Urkunde unterscheidet in klaren Worten Ausfuhr und Einfuhr.

b) Die Eger ist als Transportmittel nur für das Holz genannt. Dies stimmt auch mit den geographischen Verhältnissen überein. Man konnte wohl von den Randgebirgen egerabwärts Holz nach den waldarmen Teilen Böhmens flößen, nicht aber auf der Eger Lebensmittel stromaufwärts verfrachten.

Zu II.: Gradl bringt durch seine Abkürzung folgende Sinnverschiebung in die Übersetzung:

a) Personen, Lebensmittel und Holz ordnet er einander bei, obwohl der Originaltext nur von der Zollfreiheit für Lebensmittel und Holz spricht.

b) Die in der Urkunde eindeutig gekennzeichnete Ausfuhr wird bei Gradl unterdrückt.

c) Durch Gebrauch des relativen Anschlussses in pluralischer Form "welch letztere" wird die Einfuhr auch auf Lebensmittel ausgedehnt.

d) Als Richtung des Vekehrs wird nur noch die nach Böhmen angegeben.

e) Geflößt werden nicht mehr nur - wie die Urkunde sagt - Hölzer, sondern auch Lebensmittel.

Zu III.: Durch Muggenthaler erfährt dieser Text nun noch folgende weittragende Bedeutung:

a) Die Holzeinfuhr auf der Eger wird wie folgt umschrieben: "Man stellte auf der Eger große Flöße aus Langhölzern zusammen." Wer die Eger mit ihrem ungleichen Gefälle, ihrem stellenweise durch große Felsstücke fast blockierten Lauf und ihren an anderen Stellen vorhandenen Mäandern kennt, wird selbst bei der Annahme eines im Mittelalter höheren Wasserstandes kaum von großen Flößen aus Langhölzern sich zu schreiben getrauen.

b) Die von Gradl eingeführte Gleichordnung von Personen, Lebensmitteln und Holz wird von Muggenthaler benutzt, um jetzt auch Personen auf der Eger fahren zu lassen.

c) Die wesentlichste Zutat Muggenthalers ist aber der Ausdruck, "neue Ansiedler", der Ersatz von "Lebensmitteln" durch "ihre Ausrüstung" und die große Folgerung: "Und führte so Auswandererzüge nach Böhmen."

Dem Historiker soll es selbstverständlich belassen bleiben, den nüchternen oder lückenhaften Text einer Urkunde zu einem anschaulichen Bilde zu runden. Es geht aber nicht an, den Sinn einer Urkunde in entscheidender Weise zu ändern. Muggenthaler hat aus der Bestätigung der Zollfreiheit für Holzeinfuhr und Lebensmittelausfuhr einen Nachweis für massenhafte Einwanderung von Deutschen nach Böhmen konstruiert.

Diese Urkunde von 1230 und ihre Interpretation ist nicht allein deshalb so ausführlich besprochen worden, um vor Benutzung der genannten Lesarten zu warnen; denn schon zu oft und unbesehen ist Mugenthalers Darstellung in andere wissenschaftliche Arbeiten übernommen worden, so von Leipold ("Geschichte der ostdeutschen Kolonisation im Vogtland", Diss. Leipzig, 1927), Perl (a.a.O.), H. Meinel (Die Grenzen des Vogtländischen und Nordbayerischen, Diss. Leipzig, 1932) und Karg (a.a.O.). Die vorstehenden kritischen Ausführungen sollen vielmehr dazu anregen, wenigstens für NW-Böhmen das Kolonisationsproblem neu aufzurollen. Dazu sind wir aber auch berechtigt, weil bei genauerem Zusehen die Tätigkeit der Waldsassener Zisterzienser garnicht so stark kolonisatorisch war, wie man es seither dargestellt hat. Ein großer Teil des Waldsassener Landbesitzes erweist sich dem eingehenden Betrachter sehr bald als im waldfreien, längst besiedelten Offenland gelegen, ein anderer Teil als in einem Rodungsgebiet befindlich, wo schon weltliche Mächte tüchtige Vorarbeit geleistet hatten. Muggenthaler hat überhaupt kein eindeutiges Mittel zur Unterscheidung von Rodungs- und Schenkungsland. Eine Wiederaufnahme der Kolonisationsfrage zu erstreben sind wir auch berechtigt auf Grund der Ergebnisse der geographischen Verhältnisse des Egerlandes: Es ist sehr wohl möglich, daß das Deutschtum NW-Böhmens sich zu einem Teil unmittelbar aus germanischen Resten herleitet, die in den vorhandenen Strecken offenen Landes zurückgeblieben waren. Wie weit dies der Fall ist, wie weit an der deutschen Besiedlung NW-Böhmens auch zugewanderte Deutsche (meist Bergleute) und eingedeutschte Slawen Anteil haben, wird am Beispiel einer Landschaft Böhmens, am Egerland, ausführlicher dargelegt werden.

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