Přemysl Pitter (1895 - 1976)
(Edith Bergler, Bayreuth)

 

Přemysl Pitter war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sich durch ihre menschliche Einstellung in die tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen unmittelbar nach Kriegsende ab Mai 1945 einschrieb, vor allem aber durch ihre Kritik an den unmenschlichen Zuständen in den tschechischen Internierungslagern und durch ihre Bemühungen um die Rettung deutscher Kinder.

Pitter wurde am 21. Juni 1895 in Prag geboren. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig zur österreichisch-ungarischen Armee. Die Kriegserlebnisse machten ihn zum absoluten Pazifisten. Unter dem Einfluß von Lev N. Tolstoj fand er den Weg zum Christentum. Nach dem Krieg begann er an der Evangelischen Hus-Fakultät in Prag Theologie zu studieren. Es zog ihn aber immer zur Arbeit mit leidenden Kindern.

1922 gründete er mit seinen Freunden die Baugenossenschaft Milíčův dům (Militsch-Haus). 1933 konnte das Kinderheim in Prag-Žižkov eröffnet werden. Er und seine Mitarbeiter, zu denen auch die Schweizerin Olga Fierz gehörte, kümmerten sich um die außerschulische Erziehung der Kinder. 1937 wurden in seinem Erholungsheim Mýto bei Rokycany einige deutsche Kinder aufgenommen, die mit ihren antifaschistischen Eltern in die Tschechoslowakei geflüchtet waren.

Während der Zeit des Protektorats (ab 15. März 1939 - 1945) nahm er jüdische Kinder in Prag-Žižkov in seine Obhut, bevor sie mit ihren Eltern deportiert wurden. Das brachte ihm 1944 ein Verhör bei der Gestapo ein. Noch während des Krieges entstand in Pitters Freundeskreis der Plan, nach Kriegsende den jüdischen Kindern zu helfen, die die Konzentrationslager überlebt hatten.

Sofort nach Kriegsende erhielt Pitter von der Sozialen Gesundheitskommission beim Tschechoslowakischen Nationalrat die Vollmacht zur Realisierung dieses Vorhabens und zur Sicherstellung passender Objekte. Dazu sicherte Pitter am 15. Mai 1945 die Schlösser des Baron Ringhoffer in Kamenice und Štiřín, die ausgeraubt und verwüstet waren, sowie Olešovice und das Schloß des Prof. Knaus in Lojovice.

Am 22. Mai 1945 holte er aus Theresienstadt (Terezín) 22 jüdische Kinder im Alter von 2-16 Jahren.

Ab 16. Juli 1945 war Pitter auch Vorsitzender des Landesnationalausschusses in Prag und daher autorisiert, die Lager und Haftanstalten für internierte Deutsche zu kontrollieren.

Bevor er am 23. Juli 1945 seine erste Inspektion der Internierungslager für Deutsche in Groß-Prag begann, erhielt er auf Anforderung eine Liste (Stichtag 8. Juli 1945) über 25 Lager. Danach waren dort von den Zehntausenden Zusammengetriebenen noch 8.941 Personen interniert, von denen 1.426 Kinder waren (1313 deutsche, 81 tschechische, 32 anderer Nationalität). Jedoch waren die Zahlenangaben weit untertrieben.

Über die Rais-Schule schreibt seine Mitarbeiterin Olga Fierz:

"Vor uns öffnete sich eine Hölle, von der die vorbeigehenden Bürger keine Ahnung hatten. Über 1.000 Deutsche, meist Frauen und Kinder, hatte man in den Klassenzimmern und Kellern zusammengepfercht. Es gab kein Stroh, sie mußten auf dem kahlen Boden sitzen. Nicht einmal hinlegen konnten sie sich. Kranke und Gesunde, Alte und Kinder drängten sich in einem unbeschreiblichen Durcheinander. Ein internierter deutscher Arzt zeigte verzweifelt auf einen Raum, in dem er wenigstens die Säuglinge isolieren konnte. Sie liegen mit runzligen Gesichtchen auf den Schulbänken, nur Haut und Knochen, wie zwergenhafte kleine Greise. Es gab keine Milch für sie, wenn ihre Mütter nicht mehr stillen konnten."

 

Die schlimmsten Bedingungen stellte Pitter im Stadion Strahov fest. Olga Fierz hält dazu fest:

"Am schlimmsten war es im Sokol-Stadion auf dem Strahov, wo Tausende von Menschen auf dem kahlen Boden unter freiem Himmel und ohne Decken schlafen mußten. Schwerkranke und Kinder lagen in der glühenden Sonne in unsagbarem Schmutz voller Insekten. Nicht nur die Toiletten, auch die Wege zu ihnen waren von an Darmruhr Erkrankten verunreinigt. Sie konnten nicht weiterlaufen und blieben in ihrem Kot liegen. Ärztliche Versorgung oder Heilmittel gab es nicht."

 

Am 26. Juli brachte er unter dem Zeichen des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes insgesamt 56 deutsche Kinder mit drei Müttern aus dem tschechoslowakischen Internierungslager in der Rais-Schule in Prag sowie aus einem ähnlichen Lager, das sich im Prager YMCA-Gebäude befand, nach Lojovice. Darüber schreibt Pitter selbst im September 1945 in seiner Zeitschrift Posel z Milíčova domu:

"Als wir die Kinder brachten und auf dem Rasen verteilten, abgemagert und apathisch, dachte ich, daß nur die wenigsten durchkommen würden. Unser Heimarzt, selbst Jude (Dr. E. Vogl-T.P.), der durch die Hölle von Auschwitz und Mauthausen gegangen war, war beim Anblick dieser lebendigen Leichen den Tränen nahe. <Das haben wir Tschechen in zweieinhalb Monaten geschafft!>, rief er aus.

Heute seht ihr auf dem Rasen Kinder mit roten und runden Gesichtern herumtollen. Es sind dieselben Kinder. Dieses Wunder vollbrachte die Liebe, die keinen Unterschied zwischen Menschen macht, sondern nur das eine kennt: Mitgefühl und Hilfe."

Schließlich rettete er in seinen Heimen ungefähr 400 deutsche Kinder vor dem Tod in tschechoslowakischen Konzentrationslagern.

Von seiner lebensrettenden Hilfe sagte er selbst: "Was ist dies gegenüber Hunderten und Tausenden Kindern, die noch in den <tschechoslowakischen> Internierungslagern zugrundegehen..."

Pitter prangerte in seinen Berichten die unmenschliche Behandlung in den tschechoslowakischen Internierungslagern an, die nach einer Unterlage des Innenministeriums vom 9. August 1945 Konzentrationslager genannt wurden, und schrieb über die miserablen hygienischen Bedingungen, den Hunger, die physischen Folterungen und Mehrfachvergewaltigungen, denen auch 12jährige Mädchen ausgesetzt waren. Sein Engagement widersprach den Wünschen der politischen Stellen. Er wurde der Freundschaft mit den Deutschen beschuldigt und im Oktober 1945 seiner Tätigkeit enthoben. Es blieb ihm aber noch die Möglichkeit, für die Kinderheime und Anstalten zu sorgen, die nicht in die Kompetenz des Landesnationalausschusses fielen.

Am 4. Januar 1946 besuchte er London, um mit dem britischen Roten Kreuz die Übernahme von etwa 100.000 deutschen Kindern und Müttern aus den tschechoslowakischen Internierungslagern auszuhandeln. Er verlangte deren Unterbringung in der britischen Besatzungszone in Deutschland. Das wurde nicht bewilligt.

Das britische Rote Kreuz und die UNRRA konnte er aber für ein Wirtschaftshilfe gewinnen. Dann verhandelte er mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes in Genf und erreichte so, daß einige Transporte mit deutschen Müttern und Kindern nach Bayern fuhren, wo sie vom dortigen Roten Kreuz übernommen wurden.

Die Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei im Februar 1948 bedeutete für ihn einen tiefen Einschnitt.

Als er 1951 Kenntnis von seiner bevorstehenden Verhaftung erhielt, flüchtete er am 26. August in die ehemalige DDR und war schon am 2. September in West-Berlin..

Dank seiner vielen Freunde im Ausland erhielt er verschiedene Arbeitsangebote. Er entschied sich für die geistliche Arbeit als Pfarrer im Lager "Valka" in Nürnberg-Langwasser. In diesem Auffanglager für Ausländer betreute er ca. 2.000 tschechische Emigranten, die vor den Kommunisten geflohen waren. Nach der Auflösung des Lagers 1962 zog er mit Olga Fierz nach Affoltern in der Schweiz Dort starb er am 15. Februar 1976.

 

 

Nach dem Krieg wurde Pitters Humanität umfassend gewürdigt:

1966 pflanzte er in Israel an der Allee der Gerechten einen Brotbaum und wurde von der israelischen Regierung mit einer Medaille für seine Rettungsaktion ausgezeichnet.

1973 erhielt er aus der Hand des deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann das Verdienstkreuz I. Klasse.

1974 verliehen ihm die evangelischen Sudetendeutschen die Johannes-Mathesius-Medaille.

1997 ehrte ihn die Ackermann-Gemeinde, eine Gemeinschaft sudetendeutscher Katholiken, in Nürnberg-Langwasser mit einem Denkmal, dessen Inschrift lautet: "Wegbereiter der Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen aus dem Geiste des Evangeliums".

Die Unesco erklärte ihn zur "Persönlichkeit von Weltformat".

1991 wurde er in Prag posthum mit dem Masaryk-Orden ausgezeichnet. Trotzdem ist er in der Tschechischen Republik außer in Theologenkreisen weitgehend unbekannt.

Mag sein, daß dies daran liegt, daß sein umfassendes humanitäres Wirken nur im Zusammenhang mit den tschechoslowakischen Unmenschlichkeiten gegen die Deutschen genannt werden kann.

 

Quelle:

Tomáš Pasák: "Přemysl Pitters Initiative bei der Rettung deutscher Kinder im Jahr 1945 und seine ablehnende Haltung gegenüber der inhumanen Behandlung der Deutschen in den tschechischen Internierungslagern", in: Detlef Brandes, Václav Kural (Hg.): Der Weg in die Katastophe - Deutsch-tschechoslowakische Beziehungen 1938-1947, Essen 1994